Hallo Christian,
die Frage nach dem Leben mit einem Rett-Mädchen – tja, wo fange ich an?
Sofia ist 5 ½ Jahre alt. Vor der Schule, also frühmorgens, wecke ich drei Kinder so spät wie möglich, aber so, dass sie noch gut frühstücken können, Sofia braucht das. Dann muss Sofia komplett gewaschen und angezogen werden, mein großer Sohn (fast 11) braucht ziemlich viel Hilfestellung und die mittlere Tochter (9), kommt alleine zurecht.
Sofia wird von einem Fahrdienst abgeholt und gebracht, sie besucht die SVE einer Schule für geistig behinderte Kinder, im Anschluss die Tagesstätte an 4 Tagen bis 16.00 Uhr, freitags bis 14.30 Uhr. Fördermaßnahmen wie Ergotherapie und KG laufen im Rahmen der Tagesstätte.
Die freie Zeit tagsüber nutze ich für meine großen Kinder, für den Haushalt (klar) und alles, was sonst noch ansteht.
Die Möglichkeiten, mit den beiden größeren Kindern nachmittags etwas zu unternehmen, sind stark eingeschränkt, weil ich stets um 16.15 Uhr zuhause sein muss, spätestens. Im Sommer, im Winter, einfach immer. Notwendige Termine mit den beiden Großen werden frühnachmittags im Eiltempo eingeschoben, immer unter Zeitdruck.
Nach der Tagesstätte ist Sofia müde, sie möchte nur noch in ihrer gewohnten Umgebung sein und Musik hören und mit Decken spielen, etwas trinken und essen. Noch zu einem Termin aufzubrechen, wäre eine Riesenbelastung für Sofia und damit für uns alle, wir vermeiden das nach Möglichkeit. Nach 3 Stunden ungefähr geht sie dann schlafen bzw. in ihr Zimmer, wo sie manchmal einschläft, manchmal noch länger wach bleibt, aber relativ zufrieden ist. Dies sind so ihre Rituale, vor allem das abendliche Duschen, Haare waschen, Eincremen, Anziehen, die Fluortablette, die Schlafmusik.
Für mich persönlich öffnet sich in diesem Moment eine kleine Zeitlücke, vorausgesetzt mein Mann ist schon zuhause. Dann kann ich mal eine Stunde Sport einschieben und inlinern gehen oder laufen, oder einer von uns beiden bricht mit dem großen Sohn (der selbst viel Förderung braucht) noch ins Hallenbad oder in die Kletteranlage auf. Manchmal auch mit allen beiden großen Kindern. Sie kommen dann zwar relativ spät ins Bett, aber anders geht es bei uns kaum und Florian, mein großer Sohn, selbst von einer Nervenerkrankung betroffen, braucht die Förderung sehr, er kann sowieso kaum vor 22.00 Uhr einschlafen, es ist ein Teil seiner Krankheit.
An den Wochenenden und in den Schulferien ist auch Sofia ganz zuhause. Sie merkt das, weil sie ausschlafen darf und kein Bus kommt, weil alles etwas weniger hektisch zugeht. Außerdem erzähle ich ihr immer, dass heute kein Kindergarten ist und sie noch 1x/2x .... schlafen muss, bis sie wieder zu „den Kindern“ geht. Manchmal habe ich das Gefühl, sie versteht das.
Unternehmungen und Erledigungen jeder Art werden zunehmend schwieriger mit Sofia, weil sie momentan in einer sehr unduldsamen Phase ist – sie will nur aus dem Buggy raus und rennen (Sofia ist ziemlich fit körperlich). Wenn das situationsbedingt nicht möglich ist, bekommt sie Wut-, Schrei- und Tobsuchtsanfälle im Rehabuggy, bis wir jede Aktion abbrechen müssen. Die Konsequenz ist, wir als Familie müssen uns meist aufteilen. Ein Elternteil bleibt mit Sofia zuhause, der andere macht Erledigungen oder unternimmt etwas mit den großen Kindern.
Unsere großen Kinder müssen sehr zurückstecken, sind aber auch besonders selbständig für ihr Alter. Außerdem entwickeln beide, besonders Kristina, deutlich soziale Kompetenz. Florian ist aufgrund seiner eigenen Krankheit sowieso ein besonderer Fall, der selbst viel Aufmerksamkeit fordert. Ich achte darauf, dass die beiden Großen auch immer wieder meine ungeteilte Aufmerksamkeit bekommen indem ich mich so oft wie möglich frei mache, um mit ihnen etwas besonderes zu unternehmen (siehe den alten
Forumsbeitrag).
Weitere Entlastung im Alltag haben wir durch Verhinderungspflege, die nutze ich auch viel um mit Florian die notwendigen Fahrten zu Ärzten, Kliniken und Therapien etc. zu machen, wenn ich es eben nicht bis 16.00 Uhr nach Hause schaffe. Außerdem gibt es seit neuestem eine Woche Kurzzeitpflege im Jahr, heuer zum ersten Mal, evtl. ist so auch mal ein Familienurlaub ohne Sofia denkbar?
Urlaub mit Sofia ist derzeit nicht möglich. Auch keine spezielle Kureinrichtung für Rett-Mädchen, wie z. B. Kirchberg an der Jagst. Nach einer Besichtigung der zwar wunderschönen – aber nicht für Sofia ausreichend abgesicherten Anlage – habe ich den Gedanken an jede Mutter-Kind-Kur im Keim erstickt. Sofia braucht definitiv viel Bewegungsfreiraum in einem geschützten Rahmen, diese Bedingungen findet man fast nirgendwo.
Die Diagnosefindung war schwierig bei Sofia, weil sie lange Zeit so untypisch Rett war. Zwar entwicklungsverzögert, besonders sprachlich, aber körperlich so fit, dass Rett klinisch ausgeschlossen wurde. Als Sofia 2 Jahre und ca. 3 Monate alt war, stieß ich durch Zufall auf den Begriff Rett-Syndrom über eine Fernsehsendung. Ich besuchte die Homepage der Elternhilfe fast ein ganzes Jahr lang regelmäßig, stellte so viele Gemeinsamkeiten fest, aber auch Unterschiede, die – wie ich selbst meinte – zu gravierend seien. Die Ärzte schlossen das Rett-Syndrom lange aus, bis ein 3/4Jahr später die Handwaschbewegungen einsetzten, pünktlich zum 3. Geburtstag. Daraufhin wurde der Gentest durchgeführt und bestätigte das Rett-Syndrom.
Die Diagnose für mich persönlich kein Schock, es war die Bestätigung einer insgeheimen Ahnung. Ich habe einen Prozess von fast einem Jahr durchlaufen, während dem ich mich innerlich mit dem Rett-Syndrom auseinandergesetzt habe. Ein Jahr in dem ich regelmäßig die Homepage der Elternhilfe besucht habe und alles nur verfügbare über Rett gelesen habe.
Die erste Zeit nach der Diagnose ging es mir relativ gut, der Gradmesser dabei war, dass Sofia nicht leiden muss und glücklich in ihrer eigenen Welt lebt. Erst als sie dann in die Regressionsphase geriet und ständige Wut- und Verzweiflungsausbrüche erlitt, hat auch mich die Trauer eingeholt. Dann habe ich mich wieder etwas gefangen, die größte Sorge bleibt die Frage nach der Zukunft im Erwachsenenalter von Sofia. Die Elternhilfe ist eine große Stütze für mich, im Vorstand Bayern mitzuhelfen gibt mir eher Kraft zurück als umgekehrt. Ich versuche, auch die positiven Seiten zu sehen, die aus der Gesamtsituation erwachsen. Z. B. alle die Menschen, die ich ohne besondere Kinder niemals kennen gelernt hätte, sind mir sehr viel wert. Oder alle die Umdenkprozesse, die bei mir eingesetzt haben seit das Leben nicht gerade glatt läuft. Ich nehme viel bewusster die nicht selbstverständlichen Dinge in meinem Leben wahr und letztendlich bin ich - glaube ich - nicht unglücklicher oder unzufriedener als die meisten Menschen in meiner Umgebung, eher sogar im Gegenteil?
Mehr über Sofia auf unserer Internetseite
http://hometown.aol.de/klarahz/sofia.html
viele Grüße - Herta