Beitrag für die Rettland 14
Meine Zwillinge Rosa und Linda wurden im März 1990 geboren. Damals war meine Große fast 8 Jahre alt. Sie freute sich sehr, Zwillinge als Schwestern zu bekommen.
1990
Wie die Jahreszahl zeigt, war das für uns nicht nur familiär eine ereignisreiche Zeit. Fast ein Jahr zuvor hatte ich den Vater meiner Kinder geheiratet, nach fast dreijährigem Kampf mit den Behörden, durfte er aus Kuba in die DDR übersiedeln – ohne Heirat wäre dies nicht möglich gewesen. Zu dieser Zeit war ich noch bei Radio Berlin International angestellt. Dort habe ich als Aufnahmeleiterin gearbeitet.
Mit den Zwillingen änderte sich mein Leben
Als die Kinder unterwegs waren, wusste ich schon, dass ich an meinen Arbeitsplatz nicht würde zurückkehren können. Mit dem 3. Oktober 1990 konnte es eine „Stimme der DDR“ nicht mehr geben und so gingen die Frequenzen des Senders in der Nacht vom 2. zum 3. Oktober 1990 an die Deutsche Welle über. Während meine Kollegen fast alle in die Arbeitslosigkeit gingen und in irgendwelche Qualifizierungsmaßnahmen, hatte ich meine beiden Süßen und genoss es, nach ca. 14 Jahren Berufstätigkeit, Zeit für meine Kinder zu haben. Für mich war klar, dass ich selbstverständlich bald wieder arbeiten würde. Wirkliche Angst vor Arbeitslosigkeit hatte ich bis dahin noch nicht.
Rosa und Linda waren etwa 9 Monate alt, da wurde mein Vater krank. (er starb 85jährig im Juni 91) Ich begann zusammen mit meinen Brüdern meine Mutter zu unterstützen. Die Kinder gab ich mit ca. einem Jahr für ein paar Stunden am Tag in die Kita. Da begann auch die Zeit, in der mir die unterschiedliche Entwicklung von Rosa und Linda bewusst wurde. Anfangs sah es für mich so aus, als würde Rosa eher laufen und Linda eher sprechen. Linda war sehr geschickt mit den Händen. Ihr fiel nie ein Keks aus der Hand; während Rosa damit immer rumspielte, die Hälfte runterwarf, saß Linda brav im Wagen und verspeiste ihn ganz ordentlich.
Irgend etwas ist anders
Als die Kinder 15 Monate alt waren, begann ich, mir ernsthaft Sorgen zu machen. Die Veränderungen, die mit Linda vorgingen, waren nicht mehr mit „entwicklungsverzögert“ abzutun, bestimmte Verhaltensweisen waren einfach nicht mehr „normal“. Sie fing an, Schnürsenkel durch die Fingern laufen zu lassen, öffnete so immer ihre Schuhe; anderes „Spielzeug“ interessierte sie plötzlich nicht mehr. Wir haben ihr Schuhe ohne Schnürsenkel angezogen. Kurzzeitig machte Linda Ansätze zum Robben. Einer der Ärzte, die wir nach und nach konsultierten, meinte, es könne sein, dass Lindas Handfunktionen vielleicht zeitweise verloren gehen, weil sie jetzt mit dem Erlernen der Fortbewegung zu tun hätte und beides zeitgleich nicht schaffen würde.
Im Alter von ca. 15 Monaten ließ ich Linda zur ersten Diagnosefindung ins Krankenhaus einweisen. Es fand jedoch niemand heraus, was mit ihr los war. Es wurde uns geraten, einen Schwerbehindertenausweis zu beantragen, da Linda zumindest „von Behinderung bedroht“ sei. Wir gingen also zur Behindertenhilfe beim Jugendamt unseres Stadtbezirkes. Aus heutiger Sicht, war das der für mich schlimmste Moment. Dieses Wort „Behinderung“ gehörte auf einmal zu unserem Sprachschatz: „unser Kind ist behindert“... Ich machte mir noch gar keine Vorstellung, was dies für mein weiteres Leben bedeuten sollte; aber allein dieses Wort beunruhigte mich.
Im Sommer 1991 hatte ich wieder angefangen, zu arbeiten. Rosa und Lindas Vater trank schon immer gern Alkohol, inzwischen nahm das jedoch bedenkliche Ausmaße an. Lindas Behinderung war ganz sicher nicht die Ursache. Er hielt sich gern in Kneipen auf. Dort suchte er Gespräche mit den Menschen hier. Er, als Journalist aus Kuba, war neugierig auf das Leben in der Wendezeit; er analysierte die Veränderungen, zog Parallelen zum Alltag in seiner Heimat usw. Das Leben in Kneipen und nachts auf der Straße blieb für ihn nicht ohne Folgen. Mit dem Beginn der Arbeitslosigkeit, der zunehmenden Unsicherheit begann die Fremdenfeindlichkeit, der auch er zunehmend ausgesetzt war. Er flüchtete sich immer mehr in den Alkohol.
Trennung
Im Sommer 1992 waren seine Mutter und seine damals 6jährige Tochter aus Kuba zu Besuch. Das war auch die Zeit, in der Linda viel schrie – stundenlang, oft nachts nicht schlief. Meine Schwiegermutter war mir damals eine große Hilfe. Ihrem Sohn konnte sich leider nicht helfen - und irgendwann musste ich mir eingestehen, dass er nicht nur viel trank sondern Alkoholiker war. Das war der Moment, in dem ich beschloss, mich von ihm zu trennen. Ich sprach darüber mit Zulema, meiner großen Tochter, die ihn sehr mochte aber natürlich inzwischen auch bemerkte, dass sein Verhalten sich veränderte. Einige Tage nach der Abreise seiner Mutter und Tochter, kam Linda für sechs Wochen in die Charité – wir waren mal wieder auf der Suche nach einer Diagnose. Ich trennte mich von meinem Mann. Er hatte gerade seine Arbeit verloren, da er im Dienst trank. Ich arbeitete 40 Stunden die Woche, besuchte fast täglich Linda in der Charité, wusste nie, wie sich mein Mann unter Alkohol zu mir verhalten würde. Er selbst versuchte, nicht nach Hause zu kommen sondern bei Freunden zu übernachten, Dann kam ich an einem Abend von Linda nach Hause und ich erfuhr von meiner Mutter, sie hätte ihn auf dem Weg zur Klinik getroffen, er würde zum Entzug gehen. Für mich war es eine große Erleichterung, zu wissen, er selbst hatte sich dazu entschlossen. Für unsere Beziehung war es zwar zu spät, für seine eigene Zukunft und die Beziehung zu seinen Kindern jedoch nicht. Immerhin ist er bis auf zwei kleine Rückfälle seit 12 Jahren trocken. Tja, Linda war immer noch in der Charité. Inzwischen war man schon auf dem richtigen Wege in der Diagnosefindung: zwei Syndrome standen zur „Auswahl“: Angelmann und Rett. Der Zufall wollte es, dass Prof. Hanefeld zu einem kürzeren Aufenthalt in Berlin war und zu einem Vortrag über das Rett-Syndrom in die Familiengenetik der Charité kam. Man nutzte die Gelegenheit, ihm verschiedene Mädchen vorzustellen, so auch Linda. Seitdem wissen wir, das Linda das Rett-Syndrom hat. In den Monaten zuvor, hatte ich mich bereits auf die Situation eingestellt, ein behindertes Kind zu haben. Jetzt hatte diese Behinderung einen Namen und ich begann mich zu informieren.
Spagat zwischen Kinder betreuen und arbeiten gehen
Mit dem Beginn meiner Tätigkeit Anfang 1993 in der Volkshochschule, hatte ich auch zweimal in der Woche Spätdienste. Ich war froh, diese unbefristete Stelle bekommen zu haben und hatte darum nicht lange gezögert, diese Arbeit anzunehmen – ohne eine Vorstellung davon zu haben, wie ich die Betreuung von einer knapp 11jährigen und zwei knapp 3jährigen Mädchen an zwei Abenden in der Woche absichern sollte. Ich marschierte also zur Behindertenhilfe des Jugendamtes, erklärte mein Problem und man zeigte mit dem Finger auf einen jungen Mann, der mit im Raum saß – „unser Zivi...“, er hatte gerade seinen Zivildienst begonnen. Ich sagte nur: „Dienstag und Donnerstag brauche ich ihn.“ und schon war der Fall geklärt. Das waren noch Zeiten, als man in unserem Jugendamt fast freundschaftlich empfangen wurde und die Mitarbeiter bestrebt waren, einem all die „Errungenschaften“ der „Neuen Zeit“ zugute kommen zu lassen! Irgendwann landete ich dann bei der Elternhilfe. Ich glaube, es war 1994, als ich das erste Mal ins Sauerland zum Familientreffen fuhr. Mein Bruder hat mich begleitet. Wir kamen sehr spät abends an. Alle waren schon beim gemütlichen Beisammensein und tauschten sich gerade über all die Probleme und Schwierigkeiten mit Krankenkassen und Ämtern aus. Da wollte ich von meinen positiven Erfahrungen erzählen (Integrations-Kita gleich um die Ecke, offene Türen beim Jugendamt....), als Aufmunterung oder Beispiel dafür, dass es auch anders geht. Ich stellte mich also vor und fing an von all meinen positiven Erfahrungen zu erzählen. Während ich so schön sprach, bemerkte ich eine merkwürdige Stimmung um mich herum. Irgendwie kam mein Bericht wohl nicht so toll an. – Später dachte ich: Klar da kommt die aus Berlin (Ost- wie Westberlinern ging es ja immer irgendwie besser...), noch dazu aus dem Osten und die hat gar keine Probleme...
Naja, vielleicht habe ich mir das nur eingebildet. Am zweiten Tag hatten wir dann sehr schöne Gespräche und lernten andere Rett-Mädchen kennen.
Kita und Schule
Seit Juni 1992 besuchten Rosa und Linda eine Integrationskita. Es war eine ganz normale Kita, die seit kurzer Zeit das Experiment der Integration wagte. Rosa und Linda konnten gemeinsam eine Gruppe besuchen, zusammen mit noch zwei leichter behinderten Kindern, einmal drei, einmal zwei Brüdern und drei weiteren Einzelkindern. Zwei Erzieher und meist eine Praktikantin arbeiteten in der Gruppe. Eine der Erzieherinnen ging einmal wöchentlich zur Weiterbildung, um für die Betreuung behinderter Kinder das nötige Wissen zu erwerben. Man muss wissen, dass in der DDR die Betreuung der Kinder in Kinderkrippen (1-3) und Kindergärten (bis 6 Jahre) erfolgte. Die Krippenerzieherinnen hatten alle eine Ausbildung ähnlich der der Krankenschwestern. Das war für mich sehr beruhigend. Wenn Linda mal etwas erhöhte Temperatur hatte, wurde ich zwar informiert; abholen musste ich Linda jedoch nur, wenn sie sich nicht wohl fühlte. Das war zur damaligen Zeit, als ich noch keine feste Stelle hatte und auf Suche nach einer unbefristeten Arbeit, sehr hilfreich. Linda ist insgesamt ein sehr gesundes, stabiles Kind. Weder in der Kita noch von mir wurde sie mehr als nötig „in Watte gepackt.“ Sie schlief z.B. oft auf der überdachten Terrasse, da sie ein größeres Schlafbedürfnis hatte als andere Kinder und der Gruppe nur ein Raum zur Verfügung stand. Im Winter schlief sie dort mit Schneeanzug und Federbett, auch bei leichten Minusgraden. Erkältung ist für Linda beinahe ein Fremdwort. In der Kita blieb Linda bis zum 8. Lebensjahr. Die Förderung war sehr gut und die Kita befindet sich in unserer Straße. Da tat ich mich schwer mit der Einschulung.
Seit 1998 besucht Linda die Sonderschule für Geistigbehinderte eines benachbarten Berliner Stadtbezirks. Seither ist sie in ein und der selben Klasse, in der mal ein Kind geht und ein anderes kommt. Nach vier Schuljahren wechselten die Lehrer in der Klasse. Das war sicher nötig, aber für mich ist es seitdem nicht mehr so einfach, Dinge zu klären. Die Klassenlehrerin der ersten vier Jahre hatte von allen die Telefon-Nr. und wir hatten ihre. Es war für sie kein Problem, wenn wir sie abends mal anriefen, auch sie hat das hin und wieder getan. Bestimmte Dinge lassen sich einfach besser persönlich klären, als wenn man sie nur ins Mitteilungsheft schreibt. Mit der Lehrerin, die jetzt das 3. Jahr in der Klasse ist, ist es schwer, ins Gespräch zu kommen. Seit Linda Kommunikationstherapie erhält, die ja eine engere Zusammenarbeit mit der Schule nötigt macht, stelle ich fest, dass eine Kommunikation mit den Lehrern schwierig ist und eine Zusammenarbeit nicht wirklich gewünscht. Der Therapeut geht auf meinen Wunsch hin in die Schule, um das Kommunikationstraining in den Unterricht zu integrieren und bemüht sich sehr, die Lehrerinnen zu motivieren. Es scheint jedoch so, als würden sie nicht wirklich wollen. Ich habe mich entschlossen, Linda umzuschulen. Es gibt auch schon eine Wunschschule. Wir werden sehen, ob dort ein Platz frei ist, ob der Schultransport bewilligt wird etc.
Alltag
Ich bin voll berufstätig, weil ich es so möchte und auch weil ich unseren Lebensunterhalt verdienen muss. Als Alleinerziehende bekomme ich das natürlich ganz ohne Hilfe nicht hin. Ich erhalte seit 1994 Einzelfallhilfe über das Jugendamt. Bis 2001 kam für jeweils 16 Wochenstunden, in der Regel an vier Nachmittagen die Woche jemand zur Betreuung von Linda ins Haus. Die Hilfe wurde mal für ein halbes, mal für ein ganzes Jahr bewilligt. Hin und wieder wurde ich aufgefordert, Zulema mehr in die Betreuung von Linda mit ein zu beziehen, um die Stunden kürzen zu können. Das konnte ich immer erfolgreich abwehren. Sie war schließlich nicht die Mutter und man ist nur einmal jung. Außerdem kam sie als Älteste eh zu kurz und ganz ohne ihre Hilfe ging es im Alltag ebenfalls nicht. Insgesamt war die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt bis 2001 ganz gut. Linda fährt z.B. seit 1995 einmal jährlich ins Ferienlager. Die behinderungsbedingten Mehrkosten werden seit dem vom Amt übernommen. Auch die Krankenkasse war in der Vergangenheit ziemlich kooperativ. Lindas Bedarf an Hilfsmitteln blieb im Rahmen. Seit die allgemeine wirtschaftliche Lage sich verschlechtert hat, gestaltet sich jedoch fast jeder kleine Antrag auf irgend etwas sehr schwierig: macht unzählige Schreiben, e-mails, Telefonate und sonstige Nachfragen nötig.
Das Jahr 2001 war in jeder Hinsicht für unsere Familie ein sehr schwieriges Jahr. Im Sommer verunglückte Zulema mit 19 Jahren tödlich. In der Zeit danach habe ich mehr oder weniger funktioniert
Seit 2001 muss ich um die Weiterbewilligung der Einzelfallhilfe halbjährlich regelrecht kämpfen. Die Stunden wurden von 16 auf 11,5 reduziert. Die offenen Türen vom Jugendamt sind nicht mehr wirklich offen, es ist inzwischen ein richtiges „Amt“ geworden. Der für uns zuständige „Sozial“-arbeiter ist eher ein Aktenverwalter. Jede Hilfekonferenz wird mit einer Finanzdiskussion eingeleitet. Die letzte habe dann mal ich eingeleitet und gesagt, was ich von einem Sozialarbeiter erwarte: „Herr ..., ich erwarte von Ihnen, dass wir heute hier ein Gespräch über den Bedarf Lindas führen. Ich möchte keine Diskussion über den desolaten Finanzhaushalt. Ich erwarte mir von Ihnen, dass Sie sich ein objektives Bild machen und danach ihre Entscheidung treffen. Für Finanzen sind nicht Sie sondern andere zuständig.“
Das Problem ist ja generell, dass man den zuständigen Krankenkassen, Ämtern etc. ihre Aufgaben erklären muss, für sie mitdenken etc. Es könnte um so vieles einfacher sein, wenn es an den zuständigen Stellen kompetente Leute gäbe bzw. Leute mit einer engagierten Einstellung zu ihrer Arbeit und mit einem Bewusstsein darüber, dass sie es mit Familien zu tun haben, für die es eh nicht einfach ist den Alltag zu meistern. (Ich weiss gar nicht, was die ohne uns täten... zum Arbeitsamt gehen? Dessen ist sich kaum jemand von ihnen bewusst)
Nachtrag
Im Bericht mußte ich mich zusammenreißen, nicht viel mehr über Zulema zu schreiben. Über sie könnte ich Bücher füllen , einfach, weil mir das hilft, damit fertig zu werden, dass sie nicht mehr bei uns ist. Auch über Rosa wäre so viel zu sagen, sie ist so stark, reif und trotzdem lebensfroh. Tja, und Linda ist unser Sonnenschein, sie vertreibt uns jeden Morgen die "Morgenmufflichkeit", in dem sie uns als erstes einmal anstrahlt. - Hin und wieder sage ich zu Rosa: Geh mal zu Lindi und hole Dir 'ne Portion Sonnenschein ab."