Liebe Birgit,
ich habe dir den Beitrag von
Dr. med. Ulrich Meergans
Seehospital Sahlenburg GmbH, Cuxhaven (Rettland 12) und
http://www.rett.de/syndrom/skoliose.htm
mal hier rein kopiert
liebe Grüße
Bärbel
Das Rett-Syndrom ist eine genetisch ausgelöste neurologische Erkrankung. Eine häufige Begleiterkrankung ist die Skoliose, eine dreidimensionale Verkrümmung der Wirbelsäule. Am auffälligsten ist die seitliche Biegung der Brust- und Lendenwirbelsäule mit einem Überhang des Rumpfes, so dass die betroffenen Kinder zunehmend Schwierigkeiten haben, aufrecht zu stehen, gehen oder zu sitzen. Sie "fallen" mit dem Oberkörper zu der betroffenen Seite, so dass sie hier abgestützt werden müssen. Im Sitzen, auch im Rollstuhl, versuchen sie, durch Abstützen mit dem Arm ihr Gleichgewicht zu halten. Im Gegensatz zu anderen Skoliosen mit neurologischer Ursache tritt beim Rett-Syndrom oft zusätzlich eine Kyphose auf, d.h. eine verstärkte Verbiegung der Wirbelsäule nach vorn. Man erkennt dann einen ausgeprägten Rundrücken, der eine zusätzliche Instabilität des Rumpfes verursacht. Je fortgeschrittener die Skoliose ist, umso größer ist der erforderliche Kraftaufwand und die Konzentration, welche die Kinder, unbewusst natürlich, aufbringen müssen. Die Behandlung der Skoliose und Kyphose zielt unter anderem darauf hin, den Kindern eine stabile, möglichst aufrechte Körperposition zu ermöglichen.
Bekommen alle Kinder mit Rett-Syndrom eine Skoliose?
Die Zahlenangaben in der Literatur schwanken zwischen 30% und 100%. Von den in Cuxhaven vorgestellten 26 Kindern hatten zum Zeitpunkt der ersten Untersuchung 24 Kinder, also 92% eine Skoliose. Aber es handelte sich natürlich schon um eine gewisse Auswahl von betroffenen Kindern. Ähnlich verhält es sich sicherlich bei den Veröffentlichungen aus anderen orthopädischen Zentren. Frau Kerr fand 1996 bei 539 Kindern, die im britischen Rettregister erfasst waren, eine Skoliosehäufigkeit von 74% und eine Zunahme mit höherem Alter.
Es wird immer wieder berichtet, dass die Skoliosen später auftreten oder sich langsamer verschlechtern bei Kindern, die noch gehfähig sind. Diese Meinung kann aufgrund eigener Erfahrung und den Angaben der Literatur nicht bestätigt werden. Auch Holm und King fanden 1990 eine rasche Progredienz bei fünf von acht noch gehfähigen Kindern. Bei ihren Patienten hatten alle Kinder, die älter als 11,5 Jahre waren, eine Skoliose. Übereinstimmend berichten aber auch andere Autoren, dass eine Verschlechterung der Verkrümmung auch schon bei jüngeren Kindern auftritt und nicht selten relativ rasch verläuft. So fanden Harrison und Webb eine durchschnittliche jährliche Zunahme der Skoliosen um 14° bei Kindern über 8 Jahren. Lidström fand bei den zehn ausgeprägtesten Skoliosen (von 78 Patienten) eine jährliche Verschlechterung von 20-41°, letzteres bei einem 9jährigen Mädchen!
In welchem Alter tritt eine Skoliose auf?
Die 26 Kinder, die wir in Cuxhaven gesehen haben, waren bei erster Kontaktaufnahme zwischen 2,5 und 17,5 Jahren alt. Das entspricht einem Altersdurchschnitt von 9,8 Jahren. 24 von ihnen hatten eine Skoliose, die durchschnittlich im Alter von 7,2 Jahren entdeckt worden war. Auffällig ist dabei eine weitere Beobachtung, die für andere neuromuskuläre Skoliosen in dieser Form nicht zutrifft und eine Eigenart des Rett-Syndroms zu sein scheint. Es gibt eine große Altersvarianz für den Zeitpunkt, an dem es zur Ausbildung einer Skoliose kommt. Bei unseren Kindern schwankte das Alter bei Skolioseerstbeobachtung zwischen 6 Monaten und 12 Jahren. Auch Lidström fand heraus, dass die Skoliosen beim Rett-Syndrom deutlich früher beginnen als bei anderen neuromuskulären Skoliosen, und 1990 wiesen Harrison und Webb darauf hin, dass die Diagnose in 72% sogar schon vor dem 8. Lebensjahr gestellt werden kann.
Meistens finden sich auch beim Rett-Syndrom die typischen Formen neuromuskulärer Skoliosen, nämlich großbogige, C-förmige Verkrümmungen der Brust- und Lendenwirbelsäule, die häufig zu Schiefstellungen des Beckens führen. Dadurch gerät der Rumpf aus dem Körperlot, die Kinder neigen zu einer Seite und sie müssen gehalten werden. Die im Rollstuhl sitzenden Kinder müssen häufig ihre Arme benutzen, um sich abzustützen, da sie sonst nicht stabil sitzen können. Ein großer Teil ihrer Kraftreserven und ihrer Aufmerksamkeit wird allein für den Versuch verbraucht, eine halbwegs aufrechte Körperposition zu bewahren.
Fazit:
Eine Skoliose bei Kindern mit Rett-Syndrom
ist häufig
tritt schon in einem frühen Alter auf
verschlechtert sich rasch, auch bei jungen Kindern
verschlechtert sich rasch, auch bei gehfähigen Kindern
verschlechtert sich auch bei "erwachsenen" Rettpatientinnen
ist daher in der weiteren Entwicklung nicht kalkulierbar
und muss daher regelmäßig und sorgfältig von in der Skoliosebehandlung erfahrenen Ärzten kontrolliert
und von diesen Ärzten (!) frühzeitig behandelt werden.
Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
Prinzipiell unterscheiden wir konservative und operative Behandlungen. Zu den konservativen Therapien gehört die Krankengymnastik, insbesondere die Vojta-Therapie, die durch Erlernen vorbestehender Reflexmuster die Motorik verbessert und die Koordination fördert. Andere Therapien sind für eine Behandlung der Skoliose nicht geeignet. Aber auch von der Krankengymnastik darf nicht erwartet werden, dass sie eine schicksalsmäßig eintretende Verschlechterung der Skoliose verhindern kann. Sie kann aber sehr wohl die Muskulatur beeinflussen, Kontrakturen häufig verhindern und dadurch die Steh-, Geh- oder Sitzfähigkeit verbessern. Limitierend ist natürlich, dass die Rettkinder nicht aktiv mitarbeiten können.
Eine Korsettbehandlung ist daher die Therapie der Wahl im konservativen Bereich. Bei neuromuskulären Skoliosen ist der Erfolg der Korsettbehandlung aber unsicherer, da es auch im Korsett Verschlechterungen gibt. Bassett und Tolo fanden bei den 258 Verläufen von Rettkindern nur 46 Kinder, die mit einem Korsett versorgt waren. Bei 38% kam es im Korsett zu einer Skolioseverschlechterung.
Der Erfolg oder Misserfolg einer Korsetttherapie hängt ganz wesentlich von der Erfahrung des behandelnden Arztes und des Orthopädietechnikers sowie von der Mitarbeit und Akzeptanz auf Seiten der Kinder und Eltern ab. Auch wenn es für den Laien zunächst problematisch erscheint, einem Kind ein starres Korsett anzulegen und dieses ständig am Körper zu belassen, haben wir doch die Erfahrung gemacht, dass nach einer kurzen Eingewöhnungszeit die Kinder überhaupt kein Problem haben, das Korsett zu tragen. Von mehreren Eltern wurde hervorgehoben, dass die Kinder mit dem Korsett eine bessere Sitzfähigkeit hatten und auch das Stehvermögen verbessert war. Es wurde auch geäußert, dass die Aufmerksamkeit und Konzentration größer waren. Die Kinder waren zugewandter.
Voraussetzung ist allerdings, dass die Korsetteingewöhnung nicht zu schnell erfolgt. Das Korsett, welches nach Maß nach einem Gipsabdruck gefertigt wird, bekommt nach einigen wenigen Tagen, in denen sich die Haut an den ständigen Druck gewöhnen soll, erste kleine Druckpolster. Diese greifen an der Konvexseite der Skoliose, also an der "Aussenkrümmung" an, und drücken die Wirbelsäule in eine gerade Position. Gleichzeitig muss ober- und unterhalb ein leichter Gegendruck erzeugt werde, damit der Oberkörper nicht vollends aus dem Lot gerät. Er soll im Gegenteil aufgerichtet werden, und das Becken soll möglichst horizontal stehen. Entscheidend wichtig ist es, nicht nur den korrekten Sitz des Korsetts täglich zu prüfen, sondern auch die Wirkung auf die Wirbelsäule zu kontrollieren. Ich halte es daher für unbedingt erforderlich, nach Anpassung des Korsetts ein neues Röntgenbild im Korsett anzufertigen. Nur so kann die Einwirkung des Pelottendruckes auf die krumme Wirbelsäule kontrolliert werden.
Fazit:
Eine Korsettbehandlung beim Rett-Syndrom
ist indiziert bei einer Zunahme des Krümmungswinkels über 20°
ist sinnvoll, um das weitere Wachstum zu ermöglichen
verbessert die Stabilität beim Sitzen und Stehen
wird gut von Patienten und Eltern akzeptiert
kann eine Verschlechterung nicht verhindern
kann eine spätere Operation nicht vermeiden. Die meisten Kinder sind dann aber größer und in einem stabileren Zustand!
Wann ist in der Behandlung der Skoliose eine Operation nötig?
Eine Operation ist erforderlich, wenn der Krümmungswinkel für eine Korsettbehandlung zu groß ist. Dies ist der Fall, wenn der Skoliosewinkel ca. 50° überschreitet. Sie ist auch notwendig, wenn sich eine Skoliose im Korsett verschlechtert. Man sollte bei jungen und kleinen Kindern versuchen, den Operationszeitpunkt mit der Korsettbehandlung zu verzögern, damit die Kinder noch wachsen können. Normalerweise haben wir aber schon im Alter von 11-12 Jahren 95% unserer Rumpflänge erreicht. Ein günstiger Operationszeitpunkt ist also durchaus dann gegeben, wenn die Eltern feststellen, z.B. an der Kleidung, dass ihr Kind nicht mehr deutlich wächst. Dies sollte man unabhängig vom Alter beurteilen. Alle Erfahrungen aus der Skoliosebehandlung, und insbesondere aus der Behandlung neuromuskulärer Skoliosen, haben nämlich gezeigt, dass die Komplikationsrate der Operationen umso größer ist, je fortgeschrittener die Skoliosekrümmungen sind. Sie sind dann deutlich rigider, eine Korrektur schwieriger, der Blutverlust und die Operationszeiten sind größer. Dadurch ist auch die Nachbehandlung, die häufig auf den Intensivstationen abläuft, komplizierter und letztlich verlängert sich natürlich auch der stationäre Aufenthalt.
Bei der Operation wird der verkrümmte Wirbelsäulenbereich soweit möglich begradigt und in der korrigierten Form versteift. Für die Versteifung werden je nach Operationsverfahren Schrauben oder Haken in die Wirbelkörper oder Wirbelbögen eingesetzt. Welches Operationsverfahren nötig ist, hängt von dem Ausmaß und der Ausdehnung der Krümmung und von ihrer Lokalisation ab. Krümmungen, die sich nur über einen relativ kurzen Bereich der Wirbelsäule erstrecken, kann man gut von vorn korrigieren. In den meisten Fällen muss man aber bei den neuromuskulären Skoliosen die Wirbelsäule zusätzlich oder auch als einzigen Eingriff langstreckig hinten versteifen. Dabei versucht man, den Übergang zwischen Lendenwirbelsäule und Becken frei zu lassen, da die dann verbleibende Beweglichkeit dieses Abschnittes sehr hilfreich ist für das problemlose Sitzen. Oft besteht aber infolge der fortgeschrittenen Skoliose auch eine erhebliche Schiefstellung des Beckens. Die Kinder sitzen dann nur noch auf einem Oberschenkel. Bei ihnen muss man versuchen, das Becken weitestgehend zu horizontalisieren, damit sie wieder besser sitzen können. Dieses Ziel ist aber nur mit einer Versteifung auch des Überganges zwischen Wirbelsäule und Becken möglich.
Zusammenfassend möchte ich noch einmal betonen, dass die Skoliosebehandlung beim Rett-Syndrom eigenen Regeln folgen muss. Es müssen optimale Bedingungen für die Korsettversorgung bestehen. Das Krankheitsbild mit den Problemen beim Schlucken und Atmen und den Stuhlgangsproblemen muss den Ärzten und dem Pflegepersonal im Wachbereich und auf den Stationen bekannt sein. Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, können Sie auf eine richtige Behandlung Ihrer Kinder vertrauen.
Dr. med. Ulrich Meergans
Seehospital Sahlenburg GmbH, Cuxhaven