Marktredwitz – 40 Jahre lang haben Waldemar Perner und seine Frau auf vieles verzichtet. Das Ehepaar hat große finanzielle Opfer bringen müssen, konnte nie unbeschwert in den Urlaub fahren. „Die Belastbarkeitsgrenze ist überschritten“, sagt der Tröstauer. Seine schwerstbehinderte Tochter besucht die Förderstätte der Lebenshilfe in Marktredwitz – tagsüber. Abends, nachts und an den Wochenenden kümmern sich die Eltern um die längst erwachsene Frau. Mit 65 Jahren haben die Perners das Rentenalter erreicht und können vieles längst nicht mehr so locker schultern wie früher. Doch wohin mit Schwer- und Schwerstbehinderten?
Erstmals im Rentenalter
Waldemar Perner und seine Frau stehen nicht allein da mit ihren Sorgen und der Frage, was passiert, wenn sie die aufwändige Pflege nicht mehr bewältigen können oder „einmal nicht mehr sind“. Dass Schwer- und Schwerstbehinderte auch einmal ins Rentenalter kommen, ist ein Umstand, der eher neu ist für die Gesellschaft. Durch den medizinischen Fortschritt erreichen Behinderte heute ein Alter, von dem man vor einigen Jahrzehnten nicht einmal zu träumen wagte. Und Lebenshilfe-Geschäftsführer Erwin Strama erinnert zudem an das düstere Kapitel des Nationalsozialismus, als Adolf Hitler Behinderte nicht nur als „Versuchskaninchen“ missbrauchte, sondern diese in Gaskammern umbringen ließ. „Somit beschäftigen wir uns eigentlich erstmals damit, dass es schwerstbehinderte Rentner geben wird.“
Plätze wären frei
Nur allzu gern würden Strama und sein Team Plätze für Schwer- und Schwerstbehinderte im Wohnheim bereitstellen, wie sie gegenüber der Frankenpost verdeutlichen. In der Zeppelinstraße in Marktredwitz, wo erst im Herbst eine neue Wohngruppe eröffnet wurde, um Behinderten auch ein selbstständiges Leben außerhalb des Elternhauses zu ermöglichen, wäre sogar noch Platz. Weitere Plätze stünden im Wohnheim am Schafbrunnenweg zur Verfügung. Doch der Platz allein ist nicht das, was Schwerstbehinderte brauchen, wenn sie von den Eltern nicht mehr gepflegt werden können.
Hier schaltet sich Oberbürgermeisterin Dr. Birgit Seelbinder in ihrer Eigenschaft als Lebenshilfe-Vorsitzende ins Gespräch ein. Denn eine Lösung zeichnet sich bislang nicht ab, dass die Schwer- und Schwerstbehinderten, die tagsüber die Förderstätte besuchen, auch nachts im Wohnheim betreut werden können. „Der Bezirk Oberfranken verweigert uns noch die Mittel für den zusätzlichen Pflegeaufwand plus Nachtwache.“ Wohl werde eine Nachtbereitschaft bezahlt, was lediglich bedeute, dass eine Aufsichtsperson im Notfall herausgeklingelt werden kann. Bei Schwerstbehinderten – „wir haben ja auch Leute, die nachtaktiv sind“ – benötige man Personal, das auch nachts arbeite – wie im Klinikum.
Ingeborg Fritsch, die im Vorstand der Fördergruppe sitzt, sowie andere Mütter und Väter mit schwerstbehinderten Kindern haben es nicht leicht, nur einmal einen Kurzurlaub zum Verschnaufen einzulegen. Denn auch hier stellt sich die Frage nach der Unterbringung ihrer erwachsenen Söhne und Töchter. „In der Regel kommen sie in einem Altenheim unter“, beklagen die Eltern. Doch die Klientel dort entspricht nun einmal keineswegs der Altersstruktur der Schwer- und Schwerstbehinderten zwischen 20 und 60 Jahren. Was zudem fehlt, sei kompetentes Personal, um die Beschäftigungstherapie der Behinderten fortzusetzen.
Sterben heute die Eltern Schwerstbehinderter, würden sie – auch wenn das Rentenalter noch in weiter Ferne liegt – in ein Altenheim abgeschoben. „Und hier haben Behinderte nicht einmal Anspruch darauf, dass ihnen die Beschäftigungstherapie tagsüber bezahlt wird, da hier die Krankenkassen zuständig sind“, beklagt Birgit Seelbinder.
20 Betroffene warten
Derzeit warteten 20 schwerstbehinderte Mitarbeiter der Lebenshilfe-Werkstatt im Alter zwischen 20 und 65 Jahren auf einen Platz im Wohnheim, verdeutlicht Erwin Strama die Brisanz der Lage, dass sich etliche Eltern mittlerweile außerstande sähen, ihre Kinder weiterhin rundum zu versorgen. In einem Wohnheim mit Betreuung würden den Behinderten auch lebenspraktische Kenntnisse beigebracht, um ihnen mehr Selbstständigkeit zu vermitteln. „In Altenheimen hingegen kann man sie eigentlich nur ruhigstellen und erreicht damit das Gegenteil“, beklagt Lebenshilfe-Geschäftsführer Strama. „Ganz zu schweigen von den Alten, die oftmals schwerkrank sind und ihre Ruhe brauchen.“
„In anderen Bezirken möglich“
Vorsitzende Seelbinder stellt klar, dass es lediglich um die Bezahlung des Personals mit entsprechender Ausbildung gehe, was in anderen Regierungsbezirken auch möglich sei. „Einige Eltern sind schlichtweg am Rande ihrer körperlichen Fähigkeiten.“ Keinesfalls könne sie akzeptieren, dass Behinderte in Altenheime abgeschoben werden: „Das ist eine Verschlechterung auf der ganzen Linie.“
Angelika Bauer vom Lebenshilfe-Vorstand zeigt sich kämpferisch unter dem beipflichtenden Kopfnicken etlicher Eltern: „Wir sind auf jeden Fall auch bereit, zu klagen.“ Ingeborg Fritsch fügt hinzu: „Ein richtiges Leben steht auch unseren Behinderten zu. Sie können ohnehin nicht alles machen, weshalb sie zumindest ein gemütliches Zuhause verdient haben und nicht eine anonyme und heimatferne Umgebung, die die langjährige Förderung zunichte macht.“
Als unsere Zeitung Regierungsdirektor Johann Bramann von der Sozialverwaltung des Bezirks Oberfranken in Bayreuth mit der Problematik konfrontiert, verweist der Sachbearbeiter darauf, dass momentan noch Pflegesatzverhandlungen mit der Marktredwitzer Lebenshilfe anstehen. Und die sind gestern zum Teil mit Erwin Strama in Bayreuth geführt worden. Als der Geschäftsführer gestern Nachmittag zurückkehrt, glaubt er, einen Teilerfolg erzielt zu haben: „Wir bewegen uns aufeinander zu.“
Regierungsdirektor Bramann bestätigt auf Anfrage der Frankenpost: „Wir sind bereit, der Lebenshilfe entgegenzukommen und werden die Frage der Nachtwache lösen.“ So warte der Bezirk nun auf genaue Berechnungen der Kosten, die dafür anfallen werden.
Dass sich Erwin Strama und sein Team gleich an die Arbeit machen, steht außer Frage: „Damit wären wir alle eine große Sorge los.“